Wenn das WSI-Tarifarchiv wie letzte Woche verkündet, dass die Tariflöhne im Jahr 2015 real zugelegt haben, dann klingt das zunächst nach einer guten Meldung. Die Verbraucherpreise sind in 2015 lediglich um 0,3 Prozent gestiegen, die Tarifvergütungen dagegen um nominal 2,7 Prozent. Daraus ergibt sich im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt ein reales Wachstum der Tariflöhne und -gehälter um 2,4 Prozent. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass die DGB-Gewerkschaften Lohn- und Gehaltstarifverträge für insgesamt 12,5 Millionen Beschäftigte in Deutschland abgeschlossen haben, wir aber in Deutschland ca. 43 Millionen Erwerbstätige haben, dann klafft da eine ganz gewaltige Lücke von 30 Millionen Beschäftigten, die bei der Steigerung der Tariflöhne 2015 außen vor geblieben sind.
Selbstverständlich profitieren von Tariferhöhungen ausschließlich die Beschäftigten, deren Arbeitgeber einerseits tarifgebunden ist und die Beschäftigten andererseits für die Erhöhung ihrer Löhne gestritten haben. Diese Beschäftigten haben mehr Geld in der Tasche, weil es einen Tarifvertrag gibt. Die Arbeitgeber von Beschäftigten, die nicht von Tarifverträgen profitieren, sind entweder noch nie tarifgebunden gewesen oder sind auf der Flucht: auf Tarifflucht. Arbeitgeber begehen Tarifflucht in dem Irrglauben, dadurch wettbewerbsfähiger als ihre Konkurrenten zu sein. Das ist naiv. Denn gerade durch Flächentarifverträge sind Lohnkosten für alle tarifgebundenen Unternehmen einer Branche gleich und schützen auch die Arbeitgeber so vor schmutziger Konkurrenz auf eben genau dieser Ebene.
Trotzdem gibt es Arbeitgeber, die weiterhin systematisch Tarifflucht begehen. Jüngstes Beispiel ist das SB-Warenhaus „real“. Real verabschiedet sich derzeit aus dem Flächentarif des Einzelhandels. Und das genau mit dem Argument der Wettbewerbsfähigkeit. Die Beschäftigten nehmen das zum Glück nicht kampflos hin und streiken seit Wochen für die Rückkehr in den Flächentarif des Einzelhandels. Die Beschäftigten vom Amazon kämpfen seit nunmehr fast drei Jahren für das gleiche Ziel. Dass ausgerechnet die Arbeitgeber im Einzelhandel mit schlechtem Beispiel vorangehen, ist wahrlich schräg. Denn Tarifverträge aller Branchen und Betriebe bestimmen die Kaufkraft der Beschäftigten – auch die der eigenen.
Die Maßnahmen der Großen Koalition haben nicht zu einer Kehrtwende der seit Jahren abnehmenden Tarifbindung geführt. Die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit läuft ins Leere. Ob das gewerkschaftsfeindliche Tarifeinheitsgesetz verfassungskonform ist, wird derzeit in Karlsruhe geprüft. Und wenn die Bundesarbeitsministerin demnächst ihren Gesetzentwurf zur Einschränkung des Missbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen gemäß Koalitionsvertrag vorlegt, dann höre ich schon jetzt den Chor der Arbeitgeber, deren Gejammere schon heute unerträglich ist. Neue Tarifbindungen wie z. B. bei Primark und höhere Tariflöhne sind ausschließlich auf den Mut und den zum Teil ausdauernden Kampf vieler Beschäftigter zurückzuführen – aufrechte Kolleginnen und Kollegen, Seit‘ an Seit‘ mit ihren Gewerkschaften.
Jutta Krellmann – gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag